Erdoğan gewinnt Stichwahl
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Die Türkei steckt in einer tiefen Krise und kämpft mit hoher Inflation. Auf Erdoğan warten rieisige Herausforderungen.
Erdoğan gewinnt Stichwahl
~EXTERNE
Von Marion Sendker (Istanbul)
Mit einer seltsamen Mischung aus Erleichterung und aggressiver Radikalität feiern die Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan am Wahlabend dessen Sieg in Istanbul. Ständig dröhnen „Allahu Akbar“-Rufe durch die vom Rauch der Bengalos getrübte Luft. Die Menschen zeigen dazu mit der Hand den Rabia-Gruß, eine islamische Geste, die der Präsident ihnen seit Jahren vormacht.
Erdogan erklärt sich vor Auszählungsende zum Wahlsieger
Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan hat sich noch vor Auszählung aller Stimmen zum Sieger der Präsidentenwahl erklärt.
Nicht nur Erdoğan ist als Chef des Landes bestätigt worden, sondern auch sein System des politischen Islams. Es ist eines der wichtigsten Bausteine für den Machterhalt des talentierten Menschenfängers. Seinen Anhängern hat er so blinden Gehorsam, panische Angst vor Säkularität und höchste Opferbereitschaft sowie radikale Realitätsverweigerung beigebracht. Das erleichterte ihm den Stimmenfang. Probleme wie die enorm steigenden Lebenshaltungskosten lassen sich besser aushalten, wenn sie als Aufgabe Allahs oder als Angriff des angeblich islamophoben Westens inszeniert werden.
Absturz der türkischen Lira
Seit Monaten steckt die Türkei in einer tiefen Währungskrise. Für eine Türkische Lira gab es in Erdoğans erster Legislaturperiode vor 21 Jahren noch etwa 0,55 Cent. Jetzt bekommen die Menschen dafür nicht einmal mehr einen halben Cent. Trotzdem bildeten sich in den Tagen vor der Stichwahl lange Schlangen vor den Tauschstuben. Die Bevölkerung wollte Devisen holen, weil ein Absturz der eigenen Währung befürchtet wird.
Die Regierung hatte während des Wahlkampfs die Reserven der Zentralbank erschöpft, um die Lira stabil zu halten. Tatsächlich soll sie mindestens 30 Prozent weniger wert sein als angezeigt. Finanziert hatte Ankara die künstliche und kurzfristige Stabilität mit Milliardensummen aus dem Ausland: Russland und die Golfstaaten waren bereitwillige Geber. Die türkische Regierung ist jetzt ihr Abhängiger.
Starker Anstieg der Inflation befürchtet
Seit Monaten sagen Ökonomen einen rasanten Anstieg der Inflation für die Zeit nach den Wahlen voraus. Erdoğan-Anhänger verweigern das bisher oder zucken nur mit den Schultern. Viele würden lieber auf Brot verzichten als auf ihren Führer. Vor allem der islamisch-konservativen Masse aus eher bildungsfernen Schichten hat Erdoğan ein nie da gewesenes Selbstbewusstsein gegeben.
Diese Identitätspolitik ist ein weiterer Pfeiler seines Erfolgs. Selbst in der Rede auf dem Balkon seiner Parteizentrale in Ankara beschwor der Präsident die ihm zujubelnde Masse gegen die Oppositionsgruppen ein. Nicht nur die politische, auch die wirtschaftliche Spaltung ist auf einem Höchsttand. Jeder, der der Regierung nahesteht, kann dafür Vorteile für seine Familie oder sein Unternehmen erwarten. Jeder, der kritisch ist, muss härter kämpfen denn je.
Bereits vor anderthalb Jahren gaben 72,9 Prozent der 18- bis 25-Jährigen in einer Umfrage an, das Land verlassen zu wollen.
Auch gesellschaftlich leben die Menschen in Parallelwelten, die nahezu nichts mehr miteinander zu tun haben. Jede hat ihre eigene Sicht, Austausch findet kaum noch statt. Das von der Regierung geschürte „Wir gegen die anderen“ ist tief verankert. Schwarzmarkthändler berichten seit Monaten hinter vorgehaltener Hand von einem Ansprung der Waffenverkäufe. Ihre Kunden seien in der Regel gebildete, junge Menschen, die auf alles vorbereitet sein wollten, um sich und ihre Familien im Zweifelsfall verteidigen zu können. Offizielle Zahlen gibt es dazu nicht.
Jugend ohne Perspektiven
Vor allem die Jugend ist von Perspektivlosigkeit und Sorgen geplagt. Bereits vor anderthalb Jahren gaben 72,9 Prozent der 18- bis 25-Jährigen in einer Umfrage an, das Land verlassen zu wollen. Viele haben seitdem konkrete Pläne gemacht und nennen sich "Erdoğan-Flüchtlinge". Die meisten von ihnen sind Akademiker oder Unternehmer. Ihr Ziel ist Europa.
In der Türkei führt kaum ein Weg am Nationalismus vorbei
Bei der Stichwahl in der Türkei am Sonntag spielen beide Kandidaten die Nationalismus-Karte. Besonders einem könnte das zum Verhängnis werden
Das eint sie mit einem Großteil der Millionen Syrer, Afghanen, Iraker und anderen Migranten, die in den vergangenen Jahren in die Türkei gekommen sind. Auch sie wollen gern weiter, können aber nicht, weil die Regierung sich an den EU-Flüchtlingsdeal hält. Die wenigsten von ihnen sind integriert und leben in weiteren Parallelwelten. Eine Mehrheit der Türken will, dass sie gehen. Erdoğan ließ dagegen hunderttausende Syrer einbürgern.
Es gibt Berichte von massenhaften Manipulationen durch Identitätsdiebstahl, gefälschte Wahlzettel oder Repression gegen Oppositionelle an der Wahlurne.
Nationalismus-Joker kam zu spät
Die Opposition machte nach der ersten Wahlrunde mit dieser Politik Stimmung und versprach radikale Rückführungen. Ultranationalisten stellten sich auf die Seite des Herausforderers Kemal Kılıçdaroğlu und feuerten die Debatte zu dessen Gunsten an. Nationalisten gelten in der Türkei zu Recht seit Jahrzehnten als heimliche Königsmacher. Doch die Zeit bis zur Stichwahl war knapp. Die Opposition hatte den Nationalismus-Joker zu spät hervorgeholt. Noch dazu sprang schließlich auch Erdoğan auf den Zug auf und versprach, die Migranten zurückzuschicken.
Über die Staatsmedien beschallte er die Bevölkerung mit seinen Parolen. Die Opposition bekam kaum Sendezeit. Dessen Kandidat wurde kurz vor der Stichwahl selbst die Möglichkeit versperrt, Rundschreiben per SMS zu verschicken. Manche Städte ließen auch die Ausstrahlung eines viral gegangenen Interviews mit Kılıçdaroğlu verbieten.
Berichte über Wahlmanipulation
Wahlkampf ist in der Türkei nicht gerecht. Auch der Wahlgang selbst soll nach Angaben zahlreicher Beobachter nicht frei gewesen sein. Es gibt Berichte von massenhaften Manipulationen durch Identitätsdiebstahl, gefälschte Wahlzettel oder Repression gegen Oppositionelle an der Wahlurne. In der Stadt Ordu am Schwarzen Meer hat demnach ein Erdoğan-Anhänger einen Wahlbeobachter der Opposition im Gefecht erstochen.
Für die Türkei bedeutet das Ergebnis eine Fortführung und wahrscheinlich Verhärtung des bisherigen Kurses.
All das rückt Erdoğans Sieg zwar in ein neues Licht. Doch das System, in dem er gekonnt operiert, besteht nicht erst seit gestern. Von Anfang an war klar, dass seine Gegner mit widrigen Umständen zu kämpfen haben. Dass sie sich im Wahlkampf naiv auf vor allem inhaltliche Themen fokussiert hat, ist ein Faktor, der ihr am Tag der Stichwahl zum Verhängnis wurde. Kılıçdaroğlu blieb nichts anders übrig, als Erdoğans Sieg anzuerkennen.
Für die Türkei bedeutet das Ergebnis eine Fortführung und wahrscheinlich Verhärtung des bisherigen Kurses. Für den Präsidenten stehen derweil neue Herausforderungen an: Die Wirtschaft, der Streit mit der NATO über die Aufnahme Schwedens und die Kommunalwahlen in zehn Monaten. Hinzu kommen möglicherweise gesundheitliche Probleme. Er soll sehr angeschlagen sein.
Doch Erdoğan ist auch ein politisches Tier. Seine Kampfeslust ist beeindruckend und erfolgreicher als der Wunsch nach Veränderung seiner Gegner. Bei Betrachtung der Wahlergebnisse dürfen sie aber nicht vergessen werden: Selbst nach den offiziellen Zahlen hat knapp die Hälfte gegen den Präsidenten gestimmt. Das zeigt, dass die mehr ist als der Wirbel um Erdoğan.
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