Häusliche Gewalt und Flucht
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Die Abgeordnete Jessie Thill (Déi Gréng) befürchtet, dass Gewaltopfer mit Fluchthintergrund ihre Rechte entweder nicht kennen - oder aus Furcht nicht wahrnehmen
Häusliche Gewalt und Flucht
Ines KURSCHAT
„Die Nationalität spielt keine Rolle. Jedem wird geholfen“, unterstrich Gleichstellungsministerin Taina Bofferding am Mittwoch während der Fragestunde vor der Chamber. 270 von insgesamt 1.695 Personen, die 2022 Opfer von häuslicher Gewalt waren, stammen aus Drittstaaten, das sind rund 16 Prozent. Detaillierte Zahlen, etwa zur Nationalität und Herkunft der Gewalt-Betroffenen, hatte die LSAP-Ministerin nicht mitgebracht; der Jahresbericht zum Thema häuslicher Gewalt soll in einigen Monaten erscheinen.
Jede dritte Frau in Luxemburg wird Opfer von Gewalt
Gewalt gegen Frauen ist 2022 weltweit immer noch ein großes Problem. Auch im Großherzogtum sind Frauen physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Sogar jede Dritte.
Die erweiterte Frage der Déi Greng-Abgeordneten Jessie Thill, was der Staat unternimmt bei Beziehungsgewalt zwischen Menschen mit Fluchthintergrund, ist trotzdem berechtigt: Geflüchtete Frauen und Kinder gelten als besonders schutzbedürftig, nicht zuletzt, weil Drittstaatlerinnen und Asylbewerberinnen meistens von der Aufenthaltsberechtigung ihres Partners abhängen. „Häufig haben Opfer mit Flüchtlingshintergrund bereits existenzielle Ängste und zögern deswegen noch stärker, über erfahrene Gewalt zu sprechen, respektive dagegen vorzugehen, und sie zum Beispiel bei der Polizei anzuzeigen“, schreibt Lena Vandinivit, beigeordnete Direktorin von Femmes en détresse, auf Nachfrage des „Luxemburger Wort“.
Die Nationalität spielt keine Rolle. Jedem wird geholfen.
Gleichstellungsministerin Taina Bofferding (LSAP)
Dabei wirken laut Femmes en détresse weitere Existenzängste bremsend: Die Unsicherheit, ob sie in Luxemburg bleiben können, wenn sie sich bei der Polizei melden und über kein eigenes Bleiberecht verfügen, die Abhängigkeit vom Täter, sei diese finanziell, kulturell oder auch emotional, die Furcht, den Bezug zur eigenen Gemeinschaft zu verlieren, noch dazu auf sich allein gestellt in einem fremden Land, Zukunftssorgen im Hinblick auf die gemeinsamen Kinder.
"Wenn die Polizei kommt, ist es zu spät"
Die Minister Bofferding, Tanson und Kox haben der häuslichen Gewalt den Kampf angesagt. Ein Schwerpunkt der Strategie liegt auf der Prävention.
Ohne eigenes Bleiberecht
Dabei können Frauen (oder Männer) ohne Bleiberecht, die von ihrem Partner geschlagen werden, dieses bei der Ausländerbehörde beantragen: Fünf Anträge auf Bleiberecht aufgrund von Partnergewalt gingen dort im vergangenen Jahr ein. Einer wurde positiv entschieden, ein anderer ist anhängig. Die 2018 durch Luxemburg ratifizierte Istanbul-Konvention des Europarats, ein europaweites Abkommen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen, macht es möglich.
Die grüne Abgeordnete Thill allerdings befürchtet, dass viele (potenziell) betroffene Flüchtlingsfrauen dieses Recht und andere Rechte bei Gewaltsituationen gar nicht kennen, sei es, weil sie die Sprache nicht sprechen, um entsprechende Aufklärungskampagnen zu verstehen, sei es, weil sie die Informationen nicht erreichen. Ministerin Bofferding verwies diesbezüglich auf die Übersetzerdienste, die den Sozialarbeitern in den Zufluchtsstrukturen und Sozialämtern zur Verfügung stünden.
Jede Wegweisung wird von unserem Personal selbstverständlich umgesetzt.
Yves Piron, Direktor des Office national de l'accueil (ONA)
In den meisten Flüchtlingsunterkünften hängt die Telefonnummer aus, wo Betroffenen von Gewalt sich melden können: 113 ist die Nummer der Polizei, auch Aushänge der Frauenhäuser sind präsent. Yves Piron, Direktor des Office national d'accueil (ONA), jener Behörde, die die Aufnahme der Flüchtlinge organisiert und koordiniert und die Aufnahmestrukturen für Flüchtlinge im ganzen Land verwaltet, betont gegenüber dem „Luxemburger Wort“: „Die Gesetze sind auch in unseren Strukturen gültig.“
Konkret: Wird die Polizei gerufen, weil ein Partner mit Gewalt droht oder gewalttätig geworden ist, gilt das Wegweisungsgesetz: Der gewaltttätige Partner kann von der Polizei weggewiesen und in eine andere Unterkunft gebracht werden. „Jede Wegweisung wird von unserem Personal selbstverständlich umgesetzt“, sagt Yves Piron. Zumal, wenn Kinder betroffen seien.
Schutzkonzepte in Flüchtlingsheime
Wenn Mütter zu Opfern werden
Die Fälle von häuslicher Gewalt in Luxemburg steigen, zur Umedo aber kommen weniger Betroffene. Ein Rechtsmediziner sucht nach Antworten.
Der Ombudsman fir Kanner a Jugendlecher (Okaju) hatte in seinem Jahresbericht 2022 zwar bemängelt, keine klar erkennbaren Schutzkonzepte in den Flüchtlingsstrukturen vorgefunden zu haben, aber ONA-Direktor Piron versichert: „Unsere Sozialarbeiter haben das im Blick und sind darauf geschult, Gewalt zu erkennen.“ Zusätzliche Sicherheit vor dem aggressiven und schlagenden (Ex-)Partner, der der Unterkunft verwiesen wurde, böten die systematischen Einlasskontrollen durch private Sicherheitsfirmen: Wer durch Gewalt auffällig wurde, bekommt Hausverbot, heißt, er (oder sie) darf das Heim nicht mehr betreten. Das werde anhand von Listen genau überprüft.
Frauenhäuser - lange Wartelisten
Die Aufnahmebehörde verfügt außerdem über eine Unterkunft speziell für alleinstehende Frauen und ihre Kinder, wo insbesondere auch Frauen mit Gewalterfahrungen Unterschlupf finden können. Allerdings trifft hier zu, was für sämtliche Zufluchtstrukturen gilt: Sie sind hoffnungslos überlaufen. Frauen, die eine eigene Wohnung auf dem freien Markt suchen, werden oft über Monate, wenn nicht Jahre nicht fündig. „Ob mit oder ohne Fluchterfahrung, ausreichend Plätze und Strukturen für Opfer von Gewalt haben wir in Luxemburg nicht“, beschreibt Vandinivit die traurige Realität.
Zwei gute Nachrichten hatte Taina Bofferding den Abgeordneten dann doch mitgebracht: In Mersch soll demnächst eine Struktur mit Wohnungen für geschlagene Mütter und ihre Kinder öffnen, weitere Apartments sind in Bartringen geplant. Insgesamt sollen so 40 Frauen eine Bleibe finden. Ihr Schlussappell auf der Chambertribüne richtete Bofferding, die auch Innenministerin ist, an die Gemeinden: „ Wenn jemand freie Plätze frei hat - bei uns stehen die Türen immer offen.“
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