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Frauen in Afghanistan: Schweigen, Schuld und Scham

Die "10 nach 8"-Redaktion veröffentlicht an dieser Stelle in unregelmäßigen Abständen Beiträge von Frauen, die seit dem Rückzug der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan dort in großer Gefahr leben oder in Drittländer geflohen sind. Wir wollen zeigen, wie sich die Machtergreifung der Taliban auf einzelne Menschen auswirkt. Die "10 nach 8"-Redaktion kennt die Autorinnen aus persönlichen Kontakten und Arbeitsbeziehungen ihrer Netzwerke. Die Beiträge entstehen teils unter äußerst schwierigen Bedingungen, manche können zum Schutz der Autorinnen nur unter Wahrung ihrer Anonymität publiziert werden. Daher erscheinen einige dieser Texte auch – anders als üblich bei "10 nach 8" – weder mit einem Foto noch einer Kurzvita der Verfasserinnen. Diese Beiträge bilden nur einen kleinen Ausschnitt aus den Einzelschicksalen, von denen derzeit diejenigen in Deutschland, die mit Afghaninnen zusammenarbeiten, Kenntnis erhalten.

Ich bin seit fast einem Jahr verheiratet, aber von dem Vergnügen, das andere Menschen beim Sex erfahren, weiß ich bisher nichts. Bislang kann ich mir noch nicht einmal vorstellen, was das sein soll. In den ersten Tagen meiner Ehe hatte ich starke Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, sodass mir die Lust darauf verging. Aber da unser Leben bereits von so vielen Schwierigkeiten geprägt war, zog ich es vor, nicht einmal mit meinem Mann darüber zu sprechen und so zu tun, als sei alles in Ordnung.

Auch die Recherchen im Internet halfen mir nicht weiter, ich fand keine überzeugende Erklärung für meine Erfahrungen. Ich wurde sehr niedergeschlagen, weinte oft, wenn ich allein war, und fragte mich, was mit mir los sei. Irgendwann blieb mir nichts anderes übrig, als meine Schwestern einzuweihen. Sie nahmen mich mit zu einer Sexologin, die mir einige Ratschläge gab. Diese befolgte ich auch. Sie riet mir, mich sexy anzuziehen, Parfüm aufzutragen, den ganzen Tag über an den schönen Moment der Vereinigung zu denken, damit mein Geist vorbereitet sei, dann würde schon alles seinen Gang gehen.

All das waren Dinge, die ich in die Tat umsetzen konnte, aber es gab auch körperliche Umstände, die nicht so leicht zu ändern waren. Bevor ich geheiratet habe, hatte ich unter schweren Eierstockentzündungen und Zysten gelitten und musste deswegen viele Hormonpräparate einnehmen. Nach der Heirat sagte mir der Arzt, dass ich unter Trägheit der Eierstöcke leide und einen hohen Androgenspiegel habe. Aber ich war mir nicht sicher, ob das der einzige Grund für meine Lustlosigkeit war und die Schmerzen, die ich beim Sex hatte.

Eines Tages kam ich zufällig mit einer meiner besten Freundinnen ins Gespräch, die bereits seit fünf Jahren verheiratet ist und jetzt in Deutschland lebt. Irgendwann kamen wir auf das Thema Sexualität zu sprechen. Meine Freundin, die schon seit Jahren unter trägen Eierstöcken leidet und Probleme mit einem hohen Androgenspiegel hat, war so mutig, mir zu verraten, dass sie jahrelang kein Vergnügen beim Sex gehabt und in den ersten vier Jahren der Ehe nie einen Orgasmus erlebt habe. Sie versicherte mir, dass diese Probleme auf hormonelle Fehlfunktionen zurückzuführen seien, die man mit einem Medikament behandeln könne. Ich war sehr froh darüber, dass ich mit meinen Problemen nicht allein war und es jemanden gab, der meine Gefühle nachvollziehen konnte. Ich fasste Hoffnung auf eine Verbesserung.

In Afghanistan halten die Menschen so stark an Traditionen fest, dass jede Art von öffentlichem Gespräch über das Thema Sexualität von vornherein seine Grenzen hat. Das geht so weit, dass nicht einmal zwei gute Freundinnen ohne Weiteres miteinander über Sex sprechen können. 

Meine Freundin ist 24 Jahre alt. Jetzt, wo sie in Deutschland in Behandlung und zum Teil genesen ist, sagte sie über ihre sexuellen Komplikationen und die möglichen Ursachen ihrer Krankheit: "Ich habe seit meinem 16. Lebensjahr unter trägen Eierstöcken gelitten. Ich war damals bereits verlobt und meine Mutter brachte mich nicht zum Arzt. Stattdessen meinte sie: 'Was würden die Leute sagen, wenn sie hören, dass ich meine verlobte Tochter zu einer Gynäkologin gebracht habe? Sie würden denken, mit dir stimmt etwas nicht!' Ich hatte damals während der Periode starke Schmerzen, statt einer Blutung hatte ich einen aufgeblähten Bauch und mit Übelkeit zu kämpfen, was mich zusätzlich psychisch belastete. Ohne dass ich bei einem Arzt gewesen bin, hatten Familienmitglieder bereits befunden, dass ich vor der Hochzeit schwanger geworden war."

Sie fuhr fort: "Hinsichtlich sexueller Angelegenheiten sind uns immer Schuldgefühle gemacht worden. Jetzt, wo ich darüber sprechen möchte, habe ich immer noch das Gefühl, mich zu versündigen, und ich schäme mich! Ich habe immer geglaubt, dass Menschen nur Geschlechtsverkehr haben würden, um ein Kind auf die Welt zu bringen. Es wäre mir nicht eingefallen, dass sie das auch zum Vergnügen machen. Ich habe niemals an sexuelles Vergnügen gedacht, es hat mir Angst bereitet und ich habe es immer nur als Sünde betrachtet. Wenn mein Verlobter während der Verlobungszeit zu uns nach Hause kam, um mich zu besuchen, war es uns nicht erlaubt, allein zusammen in einem Zimmer zu sein. In meiner Familie glaubten sie, dass wir sofort Sex haben würden, wenn sie uns allein ließen, und das führte dazu, dass später sogar das Alleinsein mit meinem Ehemann zu einem Gefühl von Unruhe und Schuld bei mir geführt hat. Manchmal habe ich gedacht, dass ich mich vielleicht gar nicht zu Männern hingezogen fühle. Ich dachte mir, vielleicht fühle ich mich zu Frauen hingezogen, vielleicht bin ich lesbisch. Dieser Gedanke führte dazu, dass ich nicht einmal mehr in der Lage war, meine täglichen Aufgaben gut zu erledigen."