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Millionen Briten frieren in diesem Winter. Manche protestieren und fordern staatliche Intervention, andere suchen nach innovativeren Lösungen.
Großbritannien
Millionen Briten frieren in diesem Winter. Manche protestieren und fordern staatliche Intervention, andere suchen nach innovativeren Lösungen.
Von Peter Stäuber (London)
In London zeigt das Thermometer an diesem sonnigen Morgen gerade mal einen Grad Celsius. Eigentlich nicht ideal für einen Protest, aber in diesem Fall passt das frostige Wetter ganz gut. Dick eingepackt, mit Schal und kuscheligem Stirnband, steht Alex Considine vor dem Parlamentsgebäude in Westminster, in der Hand drei weiße Rosen. Zusammen mit etwa fünfzig anderen Leuten ist sie heute hierhergekommen, um gegen die wachsende Krise der Energiekosten zu protestieren.
„Warm banks“ gegen das Frieren
„Meine Wohnung ist kalt und feucht“, sagt Considine, Therapeutin in London. „Seit Jahren beschweren wir uns bei unserem Vermieter, aber nie hat er etwas dagegen unternommen.“ Es werde laufend schlimmer, und gerade in diesem Winter sei die Situation prekär. „Wir haben die Heizung nach unten gedreht, die elektrischen Geräte sind ausgeschaltet, und oft haben wir die Lampen aus und sitzen bei Kerzenlicht im Wohnzimmer.“ Ihre Energierechnungen zahlt sie nur noch sporadisch, und jeweils nur so viel, wie sie sich gerade leisten kann.
In diesem Winter sind die Strom- und Gasrechnungen für britische Haushalte doppelt so hoch wie im Vorjahr.
Die Energiekrise in Großbritannien hat dramatische Ausmaße angenommen. In diesem Winter sind die Strom- und Gasrechnungen für britische Haushalte doppelt so hoch wie im Vorjahr. Viele können sich das Heizen gar nicht mehr leisten. Laut einer Studie saßen im letzten Jahr über drei Millionen Haushalte ohne Gas und Strom in ihren Wohnungen, weil ihnen das Geld ausgegangen war. Im ganzen Land haben Lokalbehörden und Stiftungen sogenannte „warm banks“ eingerichtet: Warme Räume in öffentlichen Gebäuden, wo sich frierende Bürger aufwärmen können. Und unzählige Briten machen es wie Alex Considine und drehen die Heizung runter, um Geld zu sparen.
Die Zahl der britischen Haushalte in Energiearmut – die also mehr als zehn Prozent ihres Einkommens fürs Heizen nutzen – ist laut Schätzungen in diesem Winter von 4,5 Millionen auf 6,7 Millionen gestiegen.
Illustrationsfoto: dpa
Mit ihren 53 Jahren zählt Considine heute zu den jüngeren Protestierenden. Viele ihrer Mitstreiter sind Pensionäre, Großmütter, Menschen mit altersbedingten Krankheitserscheinungen. Sie werden von der Energiekrise am schwersten getroffen, denn gerade Leute mit körperlichen Beschwerden brauchen ein warmes Zuhause.
„Vorher war es eigentlich zu warm in der Wohnung"
Die Energierechnungen fielen in vielen Haushalten weniger hoch als befürchtet aus. Einige Heizungen bleiben dennoch kalt. Eine Umfrage.
Die Fuel Poverty Action Group, die den Protest organisiert hat, hat bewusst diesen Tag für ihre Aktion gewählt. Heute gibt das nationale Statistikbüro ONS die neusten Zahlen zu den „Wintertoten“ bekannt. Von Dezember bis März sterben jeweils mehr Menschen als in den warmen Monaten, und das ONS zählt jedes Jahr, wie viele dieser „zusätzlichen“ Todesfälle es im Vergleich zum Durchschnitt der milden Jahreszeit sind. 13.400 waren es im vergangenen Winter, so meldet das ONS kurz vor Mittag. Laut Armutsstiftungen sind ein erheblicher Teil dieser Todesfälle auf kalte Wohnungen zurückzuführen.
Die Protestierenden haben die Zahl auf einen schwarzen Sarg aus Holz geschrieben, sie tragen ihn in einem langsamen „Trauermarsch“ die paar hundert Meter zur Downing Street, wo der Premierminister wohnt. Viele haben weiße Rosen mitgebracht, so wie Alex Considine.
„Energie für alle“
Sie haben auch eine konkrete Forderung an die Regierung: „Energie für alle“. Alle Haushalte sollen kostenlos so viel Energie nutzen können, damit sie ihre grundlegenden Bedürfnisse decken – Kochen, Heizen, Licht und so weiter. Eine Zufallsgewinnsteuer für Energiekonzerne soll einen Teil der Kosten decken.
Freilich ist es ausgeschlossen, dass sich die Regierung so etwas auch nur erwägt. Zwar hat sie Hilfe bereitgestellt: Nach großem öffentlichem Druck hat sie die Energiepreise so beschränkt, dass ein durchschnittlicher Haushalt bei durchschnittlichem Gebrauch nicht mehr als 2.500 Pfund pro Jahr zahlen muss – ohne diese staatliche Intervention wären es 3.500 Pfund gewesen. Aber für viele sind Strom und Gas trotzdem unerschwinglich. Die Stiftung National Energy Action schätzt, dass die Zahl der Haushalte in Energiearmut – die also mehr als zehn Prozent ihres Einkommens fürs Heizen nutzen – in diesem Winter von 4,5 Millionen auf 6,7 Millionen gestiegen ist.
Die Folgen spürt man auch in Gloucester, einer Stadt rund 150 Kilometer westlich von London. Zuweilen klingeln die Telefone in ihrem Büro pausenlos, sagt Sophie Wootton-Lee. Die 30-Jährige – kurze schwarze Haare, Drahtbrille – arbeitet bei der Stiftung Severn Wye Energy Agency und spricht per Zoom von ihrem Arbeitsplatz bei Gloucester. „Viele Leute sind wirklich am Limit. Und wir sehen, wie besorgt und ängstlich viele sind.“
Wärme auf ärztliches Rezept
Severn Wye hilft Not leidenden Leuten mit Beratung, oft auch mit Geld. In diesem Winter hat die Organisation ein neues Projekt gestartet: Wärme auf ärztliches Rezept. Es richtet sich an besonders gefährdete Leute, also solche, die aus gesundheitlichen Gründen auf eine warme Behausung angewiesen sind.
Personalengpässe und Energiekrise setzen der Industrie zu
Für das erste Halbjahr hat René Winkin, Geschäftsführer des Luxemburger Industrieverbands Fedil, einen eher pessimistischen Ausblick.
Die Warm Home Prescription funktioniert so: Stellt eine Hausärztin bei einer Routineuntersuchung fest, dass ein Patient für ein Wärmerezept infrage kommt, verweist sie ihn an Severn Wye. Oft leiden die betroffenen Leute an Atemwegs- oder Herzerkrankungen, sie haben Asthma oder Arthritis, und sind zudem bedürftig, sodass sie mit der Bezahlung der Stromrechnungen Mühe haben. Daraufhin statten die Experten von Severn Wye den Patienten einen Besuch ab, werfen einen Blick in die Energierechnungen, und entscheiden, wie viel Hilfe sie bereitstellen können. „Wir können bis zu vier Monate lang die Rechnungen für Strom und Gas übernehmen“, sagt Wootton-Lee. Das Geld kommt vom staatlichen Hilfsfonds für Not leidende Bürger, dem Household Support Fund.
Es bildet sich eine breite Koalition von Leuten, die den Zusammenhang herstellen zwischen Energiekrise, Klimakrise und Krise der Lebenshaltungskosten.
Alex Considine
Ein erstes Pilotprojekt wurde im letzten Winter aufgezogen, damals beteiligten sich 28 Leute in Gloucester und Umgebung. „In diesem Jahr haben wir etwa doppelt so viel Geld zur Verfügung, wir hoffen, dass wir in diesem Winter etwa 60 Haushalten helfen können“, sagt Wootton-Lee. Bereits jetzt ist sie überzeugt, dass das Projekt ein voller Erfolg ist: „Die betroffenen Haushalte sagen uns, dass es ihr Leben verändert hat.“ Sie erzählt von einem Mann, der an einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung leidet und bei kaltem Wetter regelmäßig ins Krankenhaus eingeliefert werden muss. „Der letzte Winter war der Erste, in dem er nicht im Krankenhaus war“, sagt Wootton-Lee. Das verdanke sich vor allem der Tatsache, dass er die Heizung anlassen kann, solange er will – ohne finanzielle Konsequenzen fürchten zu müssen.
Streikwelle lähmt Großbritannien kurz vor Weihnachten
Keine Weihnachtspost, kein Verwandtenbesuch, keine Notaufnahme – und Reisenden drohen lange Schlangen an der Passkontrolle. Großbritannien streikt.
In Westminster ist der Protestzug an der Downing Street angekommen, der Sarg wird vor dem Absperrgitter niedergelegt. Alex Considine ist überzeugt, dass der Widerstand in den kommenden Monaten wachsen wird. „Immer mehr Leute schließen sich uns an“, sagt sie. „Es bildet sich eine breite Koalition von Leuten, die den Zusammenhang herstellen zwischen Energiekrise, Klimakrise und Krise der Lebenshaltungskosten.“
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